Der Paradigmenwechsel im Risiko-Management: Wie Automatisierung die Fehlerkultur neu definiert
- Jörg Kunze
- 23. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
Die unterschätzte Risikoverschiebung bei der digitalen Transformation
Wenn ein Unternehmen den Schritt zur vollständigen Automatisierung eines Geschäftsprozesses wagt, steht die Effizienzsteigerung im Vordergrund. Doch viele Führungskräfte übersehen, dass sie nicht nur den Prozess, sondern auch die zugrunde liegende Risikostruktur grundlegend verändern. Die Verschiebung des Risikos ist nicht nur eine technische Anpassung, sondern ein echter Paradigmenwechsel in der Art und Weise, wie wir über Fehler, Verantwortung und Kosten denken müssen.
Als Berater beleuchten wir diesen Wandel anhand von zwei Kernelementen und einem entscheidenden Verantwortungswechsel.
1. Wandel der Fehlerart: Von menschlicher Schwäche zu algorithmischer Logik
Der erste und unmittelbarste Effekt der Prozessautomatisierung ist die Veränderung der Fehlerursache.
Manuelle Prozesse | Automatisierte Prozesse |
Fehlerursache: Überwiegend menschlich (Unkonzentriertheit, Ermüdung, mangelnde Ausbildung, Stress). | Fehlerursache: Überwiegend systemisch (algorithmische Schwächen, Fehler in der Logik, Mangel an Trainingsdaten, KI-Halluzinationen). |
Risikominimierung durch: Training, Kontrollen, Schulungen, strikte Personalpolitik (Fokus auf Qualifikation). | Risikominimierung durch: Redundanz im System, saubere Datenarchitektur, Monitoring von Wahrscheinlichkeiten, Governance für KI-Entscheidungen. |
Im manuellen Betrieb korrigieren wir durch Personalentwicklung und strenge Kontrollmechanismen. In der digitalen Welt müssen wir lernen, die „Fehler“ von KI oder Algorithmen nicht als Bugs im klassischen Sinne zu betrachten. Vielmehr sind sie oft das logische Ergebnis einer fehlerhaften Datenbasis oder einer unklaren Aufgabenstellung. Der Fokus verschiebt sich vom „Menschen als Fehlerquelle“ hin zum „Systemdesign als Risikofaktor“.
2. Verschiebung der Risikoabwägung: Neue Kosten-Nutzen-Analyse
Die drastische Reduktion der Verarbeitungskosten ist der Haupttreiber der Automatisierung. Dieser wirtschaftliche Vorteil ist so immens, dass er eine neue Risikoabwägung an der Gleichung erlaubt.
Wenn die Kosten pro Transaktion nahe null gehen, können Unternehmen es sich leisten, auf der Risikoseite höhere Eintrittswahrscheinlichkeiten und bestimmte Auswirkungen von Fehlern zu akzeptieren, die sie im manuellen Betrieb niemals toleriert hätten.
Beispiel: Ein manueller Prozess ist teuer, aber sehr sicher (99,99% fehlerfrei). Ihn auf 100% zu bringen, ist unmöglich. Ein automatisierter Prozess ist extrem günstig, aber nur 99,9% fehlerfrei. Die Summe der Kosten (Automatisierungskosten + Kosten der verbleibenden 0,1 % Fehler) ist in der Regel deutlich niedriger als die Kosten des manuellen Prozesses.
Die Frage ist nicht mehr: „Wie verhindern wir jeden Fehler?“ Die Frage muss lauten: „Welches Risiko (Eintrittswahrscheinlichkeit mal Schaden) akzeptieren wir, um das maximal mögliche Effizienzpotenzial auszuschöpfen?“
3. Der Paradigmenwechsel: Die Verschiebung der Verantwortung
Der dritte Aspekt ist der tiefgreifendste Wandel: die Verantwortungsverschiebung.
Bisher lag die Verantwortung für den Erfolg des Prozesses beim Sachbearbeiter oder der Fachabteilung. Mit der vollständigen Automatisierung verlagert sich die Verantwortung für die Prozesslogik und damit für Fehlentscheidungen von den operativen Mitarbeitern auf:
Die IT- oder Digitalisierungsabteilung: Für die korrekte Implementierung des Algorithmus.
Den Softwarehersteller: Für die Zuverlässigkeit der verwendeten KI- oder Automatisierungstools.
Das Management: Für die Definition der akzeptierten Fehlerrate und die Governance der automatisierten Entscheidungsfindung.
Insbesondere bei KI-gestützten Entscheidungen ist diese Verschiebung kritisch. Wir können bei einer KI-Fehlentscheidung nicht einfach von einem Programmierfehler sprechen, da die KI so konzipiert ist, dass sie eigenständig und probabilistisch entscheidet.
Die Konsequenz ist, dass Unternehmen ihre Risikobetrachtung und ihr Compliance-Framework grundlegend anpassen müssen. Der Fokus muss von der individuellen Leistungskontrolle auf die systemische Risikosteuerung verlagert werden.
Fazit für Entscheider:
Automatisierung ist ein Gewinn, aber kein Freifahrtschein. Nur wer die neue Art des Risikos versteht und die Toleranz für algorithmische Fehler bewusst definiert und steuert, wird die digitale Transformation nachhaltig und sicher zum Erfolg führen. Das Risiko-Management muss in der digitalen Ära zu einem integralen Bestandteil der Prozessarchitektur werden.