Scheinselbstständigkeit: Wenn soziale Gesetze zur marxschen Akkumulation des Kapitals beitragen
- Jörg Kunze
- 15. Okt.
- 2 Min. Lesezeit
Die paradoxe Wirkung eines Schutzgesetzes
Die Scheinselbstständigkeit gehört zu den größten und oft am meisten missverstandenen Risiken im deutschen Mittelstand. Im Kern zielt das Gesetz darauf ab, Solo-Selbstständige vor Ausbeutung zu schützen und die Einhaltung der Sozialversicherungspflicht zu sichern – ein zutiefst sozialer und schützender Gedanke.
Doch die Realität sieht für viele kleine Beratungsunternehmen und hoch qualifizierte Freelancer anders aus. Sie zeigt ein gravierendes Paradoxon: Ein Gesetz, das ursprünglich Schwächere schützen soll, fördert im Endeffekt die Marktkonzentration zugunsten der Größten.
Die Realität im Tagesgeschäft: Ein Drahtseilakt für KMU
Kleine Beratungsfirmen geraten in die Gefahrenzone der Scheinselbstständigkeit, oft nicht aus böser Absicht, sondern durch die Dynamik des Marktes:
Die Falle: Ein lukrativer, aber längerer Auftrag bei einem Kunden läuft. Ein anderer Auftraggeber springt ab oder reduziert sein Volumen. Schon nähern wir uns schnell der kritischen Schwelle der wirtschaftlichen Abhängigkeit oder einem längeren Engagement bei einem Kunden, ohne dass ein echtes Weisungsverhältnis vorliegt.
Mangelnde Flexibilität: Selbst wenn wir Mitarbeiter beschäftigen, können diese in einem kleinen Team nicht beliebig rotieren und sich austauschen. Die schnelle Überschreitung von Risikokriterien ist die Folge.
Das eigentliche Problem ist dabei nicht primär die tatsächliche Scheinselbstständigkeit. Das Hauptrisiko entsteht aus der Rechtsunsicherheit.
Rechtsunsicherheit als Wachstumstreiber für Konzerne
Der Kern des Dilemmas liegt in der mangelnden Planungs- und Rechtssicherheit für die Auftraggeber.
Viele Vorstände und Einkaufsabteilungen können die komplexen Abgrenzungskriterien von abhängiger Beschäftigung und echter Selbstständigkeit aufgrund der dynamischen Rechtsprechung kaum zuverlässig einschätzen. Sie sehen das enorme Nachzahlungsrisiko für Sozialversicherungsbeiträge und entscheiden sich für die radikalste Form der Risikominimierung:
Es werden nur noch externe Mitarbeiter über große, etablierte Konzerne eingekauft.
Oder der Einsatz von Freelancern wird komplett eingestellt.
Der Effekt ist fatal: Das soziale Gesetz bewirkt, dass Aufträge im Bereich Beratung und IT nicht mehr an kleine, flexible Spezialisten-Teams oder Solo-Selbstständige vergeben werden, sondern an jene, die eine schützende, teure juristische Struktur garantieren können – also an Großunternehmen.
Die marxistische Ironie
Das ist der Punkt, an dem die sozialpolitische Ironie zuschlägt.
Der Effekt dieser Marktentwicklung ist die Förderung dessen, was Karl Marx als Akkumulation des Kapitals beschrieb: Die Konzentration von Marktanteilen, Macht und Vermögen aufseiten der größten Akteure. Das Wachstum kleiner, innovativer und spezialisierter Unternehmen wird künstlich ausgebremst.
Ein Gesetz, das mit sozialistischer oder zumindest sozialdemokratischer Zielsetzung entworfen wurde, um den Einzelnen zu schützen, bewirkt in der Praxis das Gegenteil: Es erschwert den Marktzugang für die Kleinen und zementiert die Dominanz der Großen. Es wird somit zu einem selbstironischen Mechanismus, der unbeabsichtigt die Kapitalkonzentration unterstützt – ein Effekt, den kein Sozialpolitiker jemals beabsichtigt hätte.
Die Konsequenz ist klar: Wir brauchen dringend mehr Rechtssicherheit und klarere Rahmenbedingungen, um den Mittelstand nicht länger unnötigen Risiken auszusetzen und das eigentlich lobenswerte Ziel des sozialen Schutzes tatsächlich zu erreichen, statt es ins Gegenteil zu verkehren.
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